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Publikation „Starke Stücke“ – eine Rezension

In der hessischen Szene für junges Publikum ist in den letzten Jahres einiges passiert. Dank dem Programm FLUX und dem unermüdlichen Einsatz von Ilona Sauer für ein forschendes Kinder- und Jugendtheater, dem Programm Next Generation und vielen Kolleg*innen, die sich neugierig mit zeitgenössischen Ästhetiken beschäftigen, gelingt dem hessischen Kinder- und Jugendtheater allmählich der Anschluss an den bundesweiten „state of the art“. Nun ist eine Publikation mit dem Titel Starke Stücke. Theater für junges Publikum in Hessen und Rhein-Main auf den Markt, in der Wolfgang Schneider und Nadja Blickle eine Bestandsaufnahme wagen.

Der erste Teil startet mit einer grundlegenden Perspektive. Eva-Maria Magel legt in einem Text über Kinder- und Jugendtheater in der Rhein-Main-Region den Schwerpunkt auf die freie Szene in der Metropole Frankfurt/Main als „Zentrum des Geschehens“. Dort beschreibt sie unter anderem den Generationenwechsel, der durch neue Künstler*innen aus Ausbildungsinstitutionen in Gießen und Hildesheim mit zeitgenössischen Ansätzen befördert wird. Doch sie benennt auch Probleme: Die ökonomische Prekarität in der Szene durch mangelnde Landesförderung, die sich gerade im Kinder- und Jugendtheater besonders auswirkt, genauso wie das Fehlen von mehreren professionellen Akteurinnen in den Genres Tanz und Figurentheater. Henning Fangauf erzählt in der Folge die Geschichte der Kinder- und Jugendtheatersparten der öffentlichen Bühnen in Hessen, nicht zuletzt seit der Eröffnung der Ersten in der Spielzeit 1996/97. Der ländliche Raum steht danach im Mittelpunkt einer Reflexion von Ilona Sauer, das Residenzprogramm des von ihr gegründeten Programmes FLUX ermöglicht Künstler*innen temporär Ideen in nicht-urbanen Regionen zu verwirklichen. Sie beschreibt diese Projekte als Modelle der Zusammenarbeit zwischen Künstler*innen und Bewohner*innen, um Passagen zwischen Stadt und Land zu eröffnen: Sie knüpfen an Bestehendem an, finden einen zeitgemäßen Umgang damit und initiieren vielfältige Suchbewegungen, die auf einem demokratischen Miteinander beruhen. Sauer hält es für wichtig, Strukturen und Formate zu finden, die den Kindern und Jugendlichen in ländlichen Orten Denk-, Gesprächs- und Kommunikationsräume öffnen, ohne sie dabei zu unterschätzen.

Desweiteren wandert der Fokus auf andere Themen: Eckhard Mittelstädt legt dar, wie Grimms Märchen heute auf hessischen Bühnen gespielt werden; das Team des in Marburg angesiedelten Kinder- und Jugendtheaterfestivals KUSS spricht über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihres Festivals, das jährlich überregionale und hessische Produktionen, sowie ein großes Workshopprogramm präsentiert; Nadja Blickle erläutert Struktur und Philosophie des titelgebenden internationalen Festivals Starke Stücke, das seit 1994 jedes Jahr ausgewählte Theaterstücke für ein junges Publikum in der Rhein-Main-Region zeigt. Und Wolfgang Schneider setzt sich mit dem Kulturatlas Hessen auseinander, in dem das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst eine Bestandsaufnahme der eigenen Kulturförderung präsentiert. Das Kinder- und Jugendtheater wird seiner Ansicht nach dort stiefmütterlich behandelt, die Schönfärberei und Unvollständigkeit im Kulturatlas scheint ihm ein Symptom dafür zu sein, dass diese Sparte in Hessen ohnehin strukturell marginalisiert ist. Schneider plädiert für eine kulturpolitische Entwicklungsplanung, in dem Hessen eine bessere Finanzierung für die vielfältige Szene für Junges Publikum mit einem Schwerpunkt im ländlichen Raum festlegen soll.

Der zweite Teil des Buches trägt den Schwerpunkt „Künstlerische und Kulturpolitische Potentiale“. Hier interviewt zunächst Katharina M. Schröck Gordon Vajen, den Leiter des Frankfurter Theaterhaus, und spricht mit ihm über Verantwortung und Möglichkeiten als Intendant und die Frage, wie Demokratie und Leitung, feste Strukturen und künstlerische Flexibilität miteinander funktionieren. Susanne Freiling, Dramaturgin des Theaterhaus Ensembles erzählt von der Erfahrung internationaler Kooperationen und Gastspielen und macht deutlich, wie wichtig Internationalität für das Kinder- und Jugendtheater ist. Dann wird es kulturpolitisch: Wolfgang Schneider befragt die Frankfurter Kulturdezernentin Ina Hartwig über das geplante neue Kinder- und Jugendtheater im Frankfurter Zoo-Gesellschaftshaus und entlockt ihr zumindest einige Visionen: Hartwig wünscht sich eine finanziell gut ausgestattete, offen und kooperativ funktionierende Spiel- und Produktionsstätte mit Modellcharakter.

Weiter geht es mit zwei Texten, die sich auf unterschiedliche Weise über Publikum und Qualität Gedanken machen: Detlef Köhler sinniert an Hand des Festivals Starke Stücke über Qualitäten des Theaters für junges Publikum und stellt heraus, das selbiges im Mittelpunkt stehen muss, was bedeutet, dort hin zu gehen, wo die jungen Menschen leben, aber auch, ihnen dabei Internationalität zu vermitteln. Das Vertraute und das Neue sollen eine Mesaillance eingehen, um das Wissen von Kindern und Jugendliche über Theater zu erweitern. Ute Bansemir, Leiterin des postmigrantischen Ensembles theaterperipherie, schildert, wie wichtig Themenwahl und Darstellungsform sind, wenn junge Menschen, die nicht zum biodeutschen Mainstream gehören, den Weg ins Theater finden sollen. Beim Erarbeiten von Stücken, egal ob mit Profis oder Nicht-Profis, ergibt sich bei theaterperipherie die künstlerische Form durch die Themen und die Besetzung und nicht alleine durch scheinbar geniale Regie. Eine solche Ästhetik der Fürsorge mache gerade die nicht immer perfekten Bedingungen zum Potenzial von Selbstermächtigung. Danach geht es genauer um die Effekte zeitgenössischer Ästhetiken auf die hessische Szene: Philipp Schulte skizziert, welche Einflüsse aus der Gießener Angewandten Theaterwissenschaft, bekannt als Kaderschmiede des Postdramatischen, die Kinder- und Jugendtheaterszene erreicht haben, seit vermehrt deren Absolvent*innen für junges Publikum arbeiten. Dabei kennzeichnet er zwei unterschiedliche Ästhetiken, nämlich ein Theater der reflektierenden Distanz und ein Theater der größtmöglichen Direktheit, sowie die kollektive Arbeitsweise als wichtige Impulse. Und David Rittershaus erklärt, wie der Next Generation Workspace, ein Nachwuchs-Residenzprogramm für die Kinder- und Jugendtheaterszene Hessens, diese Impulse initiiert hat.

Im Dritten Teil geht es schließlich um Theaterkunst als Kulturelle Bildung. Nadja Blickle spricht mit Eschborns Kulturreferentin Johanna Kiesel und der Lehrerin Antonia Nickel über Kultur für Kinder in der hessischen Stadt und die Art und Weise, wie Schule und Kulturverwaltung an einem Strang ziehen. Die Theaterpädagogin Stefanie Kaufmann schreibt über Herausforderungen und notwendige Kompetenzen der Vermittler*innen, mahnt aber auch an, dass kulturpolitische Rahmenbedingungen unerlässlich sind. Zum Schluss diskutieren Anna Eitzeroth und Wolfgang Schneider mit Marcus Kauer, Referent für Kulturelle Bildung am hessischen Kultusministerium und Jan-Sebastian Kittel, Theaterreferent im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst über Darstellende Künste und Schule in Hessen. Hintergrund ist eine Studie, welche Schulen darüber befragte, welche Aktivitäten im Bereich Darstellende Künste bereits erfolgen und zukünftig wünschenswert sind. Dabei scheint Kittel vor allem auf die Stadt- und Staatstheater und das Landestheater zu setzen, obwohl sich gerade in den letzten Jahren gezeigt hat, dass die freien Darstellenden Künste aufgrund ihrer Mobilität und ästhetischen Qualität eher in der Lage sind, gerade in nicht-urbanen Räumen Kooperationen mit Schulen erfolgreich umzusetzen. Zudem findet er es wichtig, die Spielstätten in kleinen Kommunen mit einem Investitionsprogramm zu unterstützen. Kauer fokussiert sich auf Fortbildungen und Prozessbegleitungen, in denen Lehrer*innen dem Darstellenden Spiel und Künstler*innen begegnen und die eigene Unterrichtspraxis neu denken. So soll Darstellendes Spiel nicht auf ein Schulfach reduziert werden, sondern auf den Alltag von Schule an sich Einfluss nehmen und Räume für Kulturelle Bildung schaffen. Eine Ausweitung des Schulfaches Darstellendes Spiel sei jedoch aus juristischen Gründen gescheitert. Laut Eitzeroth ergab die Studie dagegen, dass sich ein großer Teil der Lehrer*innen die Einführung des Faches Darstellendes Spiel in der Stundentafel der Jahrgangsstufen eins bis zehn wünschen.

Starke Stücke vermittelt eine Menge interessante Einsichten in die hessische Szene, in der auf der einen Seite eine sehr interessante ästhetische Entwicklung stattfindet, die aber auf der anderen Seite teilweise nur mangelhaft strukturell und finanziell unterstützt wird. Zumindest was die Förderung der freien Darstellenden Kinder- und Jugendtheaterakteur*innen betrifft könnten Land und die meisten Kommunen viel mehr tun. Aber natürlich weisen viele grundsätzliche Perspektiven auch über die lokale Situation hinaus. Leider bleibt die Publikation an manchen Stellen lückenhaft. Es ist schade, dass beispielsweise ein seit 24 Jahren erfolgreich im ländlichen Raum Hessens arbeitendes und wichtiges Festival für Kinder- und Jugendtheater wie Kaleidoskop in der Publikation nicht wirklich auftaucht. Trotzdem ist das Buch eine interessante Lektüre und ein wichtiger Impuls. Denn eine Bestandsaufnahme ist nicht zuletzt ein erster Schritt in eine bessere Zukunft.

Das Buch kann man hier kaufen.

Foto: Buchvorstellung „Starke Stücke“ mit Paul Tischler (Geschäftsführer Verlag Theater der Zeit), Nadja Blickle und Wolfgang Schneider. Foto: Katrin Schrader.

 

Autor

Jan Deck ist Politikwissenschaftler, lebt in Frankfurt/Main und arbeitet als freier Dramaturg, Regisseur und Kurator. Seit über zehn Jahren arbeitet er für den hessischen Landesverband laPROF, seine Schwerpunkte sind Lobbyarbeit, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Veranstaltungen. Er ist Mitglied verschiedener Juries und Beiräte, kuratiert Tagungen, Festivals und Labore. Als Herausgeber und Autor beschäftigt er sich mit verschiedenen Aspekten von Kunst und Gesellschaft.